Mein liebes Leben,
du warst schon bei mir, als ich noch nicht einmal über dich nachdenken konnte. Lange Zeit mussten andere auf mich aufpassen, damit du bei mir bleiben konntest. Aber das ist normal.
Und weil es so normal ist, vergessen manche, über ihr Leben auch einmal nachzudenken. Nehmen es einfach hin. Als selbstverständlich.
Dabei finde ich, kann ein wenig Demut nicht schaden.
Du hast mich in einer klassischen Familie in einem friedlichen Land platziert.
Um mich herum gab es Familien, Kinder… Schule, Ferien, Klassenfahrten, Kindergeburtstage…und ich mitten drin.
Neben meiner Schwester hatte ich noch einen „gefühlten“ Bruder, Nachbarskind im selben Haus. Wir haben „Alfons Zitterbacke“ von der Schallplatte gehört, mit der Eisenbahn gespielt und gebastelt, getobt, Hängematte geschaukelt, Nachbarn geärgert, Mist gemacht….
Leider habe ich ihn mit dem Erwachsenwerden komplett verloren, keinen Kontakt.
Du hast mir Liebe vor die Füße gespült, nicht immer habe ich zugefasst. Mit 15 zu jung, um zu erkennen, jemand besonderem begegnet zu sein. Undurchsichtig war für mich, was wichtig und unwichtig sein sollte. Liebe ist unabhängig von Körpergröße und Prestigedenken. Mütter haben nicht immer recht.
Als ich ihn nach zwanzig Jahren endlich wirklich wiederfinden wollte, hatte er seinen Vertrag mit seinem Leben schon gekündigt.
Die nächste Liebe fühlte sich ganz anders an. Mehr geglättet, nicht so Berg und Tal.
Und die Liebe zum eigenen Kind ist noch einmal etwas ganz anderes.
Leider habe ich meine Heimat verloren. Das Elternhaus sozusagen. Das Haus, welches mir 19 Jahre lang ein Dach geboten hat. Die Eltern haben sich getrennt, ihr Leben noch einmal neu sortiert.
Zwei Häuser gibt es, die ich manchmal besuche. Dich, mein Heimathaus mit deinem ehemals ungeliebten Keller, in dem ich so manche Schippe Koks verballert hab. Jetzt ist natürlich alles viel moderner. Aber ruhig ist es geworden, stimmt’s? Zwei ältere Leute wohnen dort, wo einst zwei Familien mit je zwei Kindern wohnten. Aber Häuser überleben Menschen…auch du wirst wieder lebendiger werden. Ich roll mal wieder langsam bei dir vorbei, richtig besuchen kann und will ich dich nicht. Mein Sohn wohnt in deiner Nähe und ist bei dir schon entlang geradelt. Ihn kennst du noch als Zwerg… nun ist auch er schon groß.
Das zweite Haus, welches ich besuche, habe ich „selbst“ gebaut. Na gut, auf dem Papier.
Aber diese sonderbare Liebe zu einem großen Mann, der dann doch ein zu groß geratener Junge war, hat nicht viel Zeit überdauert.
Das mit Herzblut entstandene Haus loszulassen war der Preis für die Freiheit. Dich, mein liebes Haus, besuche ich frohen Herzens, ich bin stolz darauf, dass du so schön und gelungen bist und froh darüber, dass du so lebendige Bewohner hast.
Mein liebes Leben, was hast du noch mit mir vor? Diese Aktionen von Heirat mit 18, Mutter mit 19, alleinerziehend mit 29, Hausbesitzerin mit 34, Single-Haushalt mit Fernliebe ab 36… seit dem Auszug aus dem Elternhaus sieben Umzüge… was wird noch kommen?
Jobs. Tja, auch da sind wir das Dream – Team „Überraschungsei“ – mein Leben und ich.
Scheinbar bin ich mit einem Extra- Feature ausgestattet, Knopf „Optimieren aktivieren“.
Mag Chefs nicht, die einen klein halten wollen mit der Argumentation „draußen gibt’s keine Jobs“, „andere Bewerber stehen Schlange vor der Tür“. Ich muss meine Arbeit mit Überzeugung tun, sonst liefer ich schlechte Arbeit ab. Und dann kommt dieser Knopf ins Spiel. Bisher wurde er 10 x aktiviert. Wie machen das bloß die anderen, die 20 Jahre+ in einer Firma sind?
Eine Bekannte hat mal zu mir gesagt: „ Hirn raus, feuchtes Tuch drüber, auf Beifahrersitz legen, arbeiten, dann Hirn wieder rin, leben….“
DAS ist keine Alternative für mich.
Es gibt Kindheitsträume, über die man später lächelt.
Ich wollte mal Lokführer werden. Das war noch unrealistisch. Architektin. Das hätte gut gepasst, aber die Rahmenbedingungen waren eher schlecht. Ich noch zu jung, die Hindernisse für damalige Verhältnisse zu groß für mich. Heute würde mir das nicht mehr passieren. Naja.
Ich wollte keine Familie gründen, keine Kinder haben, das Beispiel der Eltern war nicht überzeugend. Aha.
An richtige Träume kann ich mich gar nicht weiter erinnern…doch: zwei:
Den einen hab ich vererbt (… ): eine laange Rutsche, in die man oben reinhüpft, ruuuutscht… und unten gewaschen, angezogen, frisiert, gezahnputzt usw. wieder rauskommt.
Oder eben abends gebügelt und geschniegelt für’s Bett.
Und der zweite? Erfüllt! Auto, Auto, Auto…
Tagtraum von früher Kindheit an: ich sitze bei toller Musik im Auto und fahre, fahre, fahre…
Technische Ansprüche ans Gefährt hatte ich keine, weil a.) keine Ahnung und b.) zu DDR Zeiten galt „Hauptsache fährt“.
Mit 25 hab ich den Führerschein gemacht, fahre seitdem immer. Mal netten Gebrauchtwagen als Familienkutsche gehabt oder eben Dienstwägelchen.
Aber seit einem Jahr: Traum erfüllt!
Seht ihr eine Golf GT Sport- Fahrerin (schneeelll gucken…) mit blödem Grinsen im Gesicht? Das bin ich.
Witzig: Ich durfte als Kind keine langen Haare tragen. Ein Traum von mir ( also doch noch einer!) war oft; ich wache auf und die Haare sind lang! (Ich glaub ich hab als kleines Mädchen sogar früh manchmal vorsichtig hingefasst, ob es jetzt endlich geklappt hat…)
Und in diesem Auto-Traum hab ich lange, dunkle und glatte (wichtige Anmerkung nach den Verfehlungen der 80er Jahre!) Haare.
Und soll ich was sagen? Ich HABE lange, glatte dunkle Haare! Und Auto!!!
Glück! Glücklich!
(Link zu einem der glücklichst- machenden Tage)
Als Teenager mag ich manchmal gedacht haben am falschen Fleck geboren worden zu sein. 250 km westlich gab es in jedem Laden „Mars“- Riegel, meine heimliche Maßeinheit für Glück.
Aber wenn auch die individuellen Möglichkeiten beschränkt waren, würde ich heute diesen Gedanken revidieren.
Mein liebes Leben, wir haben uns zur richtigen Zeit getroffen. Ich musste bisher keinen Krieg erleben, 50 Jahre eher geboren wäre ich an meiner chronischen Krankheit alsbald eingegangen.
Ich habe mit 20 eine Revolution erlebt, zahle heute bereits mit der dritten Währung mein täglich Brot.
Ich bin gespannt, was wir noch zusammen anstellen werden. Und auch darauf, was uns einmal trennen wird. Und wann.
Ja, manchmal habe ich Angst, du könntest mich plötzlich verlassen. Nein. Nicht Angst. Es ist mir bewusst, dass es passieren kann. Ich will dich nicht als selbstverständlich betrachten. Ich will dich jeden Tag schätzen. Auch wenn es mir nicht immer gelingt, wenn ich gelegentlich wegen Nichtigkeiten die Wichtigkeiten vergesse.
Solltest du mich doch ohne Vorwarnung verlassen und ich keine Zeit mehr für folgende Worte haben, so sage ich sie jetzt:
Es war schön mit dir! Danke dass du bei mir warst!
Aber vielleicht haben wir erst Halbzeit, also lass uns weiter machen!
Was hinter mir liegt, wird klein. Was vor mir liegt ist groß.