Monat: Oktober 2014

Ein langes Leben

… wird einem oft gewünscht, am Geburtstag zum Beispiel.

Ich versuche zwar zu verdrängen, muss aber – gerade dann-  an die Menschen denken, die in Pflegeeinrichtungen, Seniorenresidenzen, Altenheimen-oder so ähnlich genannt- leben.

Heute war ich in zwei solchen Einrichtungen unterwegs. Einmal mit der Ärztin, sie ist die Hausärztin vieler Bewohner. Sie stürmt geht in die jeweiligen Zimmer, begrüßt die Bewohner nicht und steuert sofort auf die bereits freigelegten Problemzonen zu. Wenn der Bewohner Pech hat, hat er eine Wunde, wo ein Faden gezogen werden muss oder wo man etwas entfernen kann, z.B. Hornhaut, wildes Fleisch, Nekrosen. Tut mir leid, euch hier mit sowas zu behelligen. Aber sie wendet dann dem Mensch selbst den Rücken zu und schnitzt los. Fachfraulich sage ich dazu nichts, aber noch dazu fügt sie den Menschen emotionslos Schmerzen zu und spricht nicht mal mit ihnen. Das wiederholt sich immer wieder. Reden tut sie nur mit der Pflegefachkraft in der dritten Person über den jeweiligen Mensch. Bei einer besonders brutalen Abtragung war ich die einzige, die zur jammernden Patientin ein paar tröstende Worte sagte, während die Fachkraft und die Ärztin sich über etwas anderes unterhielten.

Während man als „Externe“ über die Flure läuft, hört man in seinem Rücken immer wieder „Schwester“ oder „Können Sie mir helfen?“. Auch ich hab mir längst angewöhnt, schnell vorbei zu laufen, abgesehen davon, dass oft Augentropfen, Schmerzmittel, reguläre Medikamente oder Abführmittel eingefordert werden oder gar Probleme gemeldet werden sollen, für die ich nicht der richtige Ansprechpartner bin. Aber ich kenne das Problem, wenn ich dort auftauche suche ich auch oft 10 Minuten nach der Belegschaft. Und den armen Bewohnern geht es nicht anders. Der vorgeschriebene Personalschlüssel… man sollte diejenigen, die diesen festgelegt haben mal unter solchen Bedingungen wegsperren. Mit Schmerzen. Mit Problemen. Mit Kummer. Bei Demenz und damit verbundener Angst und Orientierungslosigkeit.

In der 2. Einrichtung war ich heute insgesamt 3,5 Stunden. Die Uhrzeit war mir vorgegeben. Wieder Wunden das Thema. Die Bewohner machten Mittagsschlaf, aber den Schwestern ist diese Zeit recht. Also werden die Menschen aus dem Mittagsschlaf gerissen, nicht informiert und die gefragten Körperstellen freigelegt. Die (eine) Fachkraft zerrt die Verbände ab, dass die Haut sich auch gleich vom alten Körper trennt, belehrt mich aber währenddessen die ganze Zeit und betont ihre eigene Kompetenz. Mir ist schlecht. Aber in dem Haus berühren mich die traurigen Szenen besonders. Die Gänge sind recht lang und verwinkelt und aus jeder Ecke kommt ein Hilferuf, einen Bitte, ein Flehen… und auch die (andere) Fachkraft flitzt inzwischen schnell vorbei, vor vier Wochen war sie den Menschen noch zugewandt, hat sie den ungleichen Kampf noch aufgenommen. So schnell…nun auch sie…resigniert… und rennend.

Man wird aber auch irre, eine Bewohnerin – wegen einem multi-resistenten Keim eigentlich isoliert-, kommt ständig angeflitzt und will das Haus verlassen… Glück im Unglück, dass sie den Ausgang nicht findet….  dazwischen toben auch noch Angehörige rum, eine Frau hat mir deutlich die Pest an den Hals gewünscht, weil ich die einzige Schwester „blockiert“ habe.

Heute hallt ein Satz bei mir in Dauerschleife nach… „Sie haben auch keine Zeit und können mir nicht helfen?“ begleitet vom Gefühl, auch versagt zu haben… Und im Treppenhaus, hinter der Schwester her rennend, hab ich dieser erzählt, dass ich genau deshalb damals in der Hauskrankenpflege aufgehört habe, weil ich ca. 15x täglich fragende, traurige, unglückliche Gesichter zurücklassen musste, weil ich eine Telefonnummer nicht aus der Schublade kramen konnte, keine Zeit zum Brille suchen hatte, die Zeitung im Kiosk umme Ecke nicht holen konnte, nicht beim Lieblingsbäcker das Brot holen konnte, den Sohn nicht anrufen konnte, nicht mit dem Hund Gassi gehen konnte und einfach nicht mal zuhören konnte…..

Ich bin traurig…. und weiß nicht, ob ein langes Leben nicht oft auch eine Strafe ist…

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