Wo ist mein Mantel?

Ich bin Krankenschwester und begegne im Berufsleben oft schwer kranken Menschen.
Obwohl ich immer nur sehr partiell zuständig bin, da ich ja nicht pflege, sondern nur fachliche produktspezifische Hilfestellung gebe, versuche ich mich einzufühlen und auch Bedürfnisse oder Versorgungslücken zu erkennen, auch wenn sie mir nicht auf dem Tablett serviert werden.
Oft erkenne ich auch, dass ich nur für einen Schwatz und ein paar „Mut-mach-Parolen“ geordert werde, was ich aber nicht verübel, sondern im Gegenteil, das Beste an meiner Arbeit ist.
Trotzdem habe ich immer einen Schutzmantel an. Einen Distanz-Mantel. Damit ich ihn zu Hause, oder besser schon im Auto, auch mal ablegen kann, zu kummervoll und sorgenschwer wäre mein eigenes Leben, wenn ich alles mitschleppen müsste.
Aber heute war dieser Mantel weg…
ArztpraxisIch war Patient. In einer onkologischen Arztpraxis, mittendrin. Guten Tag, Name, Termin, bitte kommen Sie mit, wo möchten Sie sitzen, hier die Flexüle, na die Venen sind ja prima, rumms, rin die Nadel, ran die Flasche, abgefertigt. Zwischendurch wurde aufmerksam geguckt, eine Schwester war immer da, also alles bestens.
Nach und nach kamen die anderen Patienten. Eine alte Dame mit Perücke, bei mir Rubrik „süsse Omi“ dachte, sie tut sich einen Gefallen, nah an der Heizung zu sitzen. Ihr war schrecklich kalt, sie war eingewickelt in Decken. Leider hatte sie übersehen, dass sie einen schlichten, unbequemen Stuhl erwischt hatte und quälte sich zunehmend. Dies quälte wieder mich, aber in der Voraussicht auf mindestens 4 Stunden Infusion wollte ich meinen bequemen Relax-Sessel, den alle anderen auch hatten, nicht eintauschen. Bald wurde aber eine Nachbarin neben mir fertig und diesen Stuhl konnte die „süsse Omi“ dann übernehmen. Und trotz ihrer anfänglichen Stuhl-Misere belustigte sie uns mit Story’s von ihrem „Geist“ zu Hause. Ständig fehlt was, Waschmaschine verstellt, Gewürze auf dem Boden verstreut, brauchbares Essen im Mülleimer. Sie hat derzeit täglich Chemo und wenn sie nach Hause kommt äugt sie erstmal vorsichtig, was sich in ihrer Abwesenheit alles wie verändert hat. Dann setzt sie sich in die Küche um sich abzuregen. Und dann versucht sie, das Chaos in Ordnung zu bringen, während ihr „Geist“ sie fragt, was sie schönes eingekauft hätte, war doch so lange weg? Ich hab auch einen Augenblick gebraucht um zu begreifen, dass ihr Geist ihr dement werdender Mann ist.
Was ist für sie schlimmer, ihre Krankheit oder ihr (Quäl-)Geist?
Eine andere Frau war um die 60, auch mit Perücke, das hab ich aber erst zur Kenntnis genommen, als sie davon sprach, dass die Haare weg wären: „…aber was tut man nicht alles, um zu leben…“. Sie war etwas verständnislos ob der dienstlichen Anrufe, die ich erhielt. In einem Gespräch war mir wohl anzumerken, dass ich unter Zeitdruck stand, die Zeit in der Arztpraxis nur mühsam der Arbeitszeit entrissen… Sie erzählte mir, das Leben sei zu kurz, um sich abzuhetzen, der Körper würde sich wehren, man sollte auf ihn hören… Sie hat ja recht, aber (….)
Ein Opi und sein Elend hat mir das Herz abgeschnürt. Lustige derbe Sprüche, ein Berg Zeitungen…los geht’s. Irgendwie aufgeschnappt: Rückfall, jetzt Lungenkrebs, kennt das Procedere. Haste gedacht! Bei der 2. Tüte kommt die Schwester und erklärt ihm, wegen der Nebenwirkungen (Fingernägel könnten abfallen…) bekommt er Eis- Handschuhe. Erst ungläubig (Witz? hoff?), dann , naja, wird schon gehen… und dann kommt die Schwester mit halben Boxhandschuhen! Da sass er nun, nix Zeitung lesen, nix festhalten, nur Löcher in die Luft starren! Ca. 2 Stunden. Danach tat er mir noch mehr leid, Handschuhe weg, Muttis Vesper-Box raus; lecker Schrippen! Die hätte er nun die ganze Zeit gern gegessen! Von wegen kennt sich aus! Es kann alles immer noch schlimmer werden!
Ich will meinen Mantel wiederhaben!!
Aber alle wurden irgendwann fertig (gab noch mehr…) und ich, die sich am gesündesten vorkam ( bei mir sollte wegen schlechter Blutwerte „nur“ Eisen substituiert werden) hatte jetzt meinen Einsatz! Nach ca. 2 Stunden hatte ich schon Herzschmerzen bekommen, ich hab das dann als „heftiges Seitenstechen in Herzgegend“ definiert. Halbe Stunde Pause. Mist. Ick will hier raus! Danach etwas langsamer (Mist!) aber alles ok. Auf einmal: Rechte Hand schwillt an zur Pauke. Linke Hand zieht nach. In meinen Stiefeln wird es aber eng! Nächste Stufe: alle Gelenke schmerzen und bei Bewegung erwarte ich Knarrgeräusche. Rost? Eisen? Äh? Aha, Aufmerksamkeit erfolgreich auf mich gezogen! Schwester: „so, ich mach sie jetzt ab, den Schluck können wir lassen.. ich hab hier ein Medikament..“ „Welches?“ „Prednisolon“ „Will ich nicht!!“ Rückfrage Doktor. Ergebnis: keine Diskussion! Rin! Und dann zur Beobachtung bleiben. Oh nööö.
„Muss auf Toi.“ „Ja gehen Sie mal, aber schließen Sie nicht ab, falls was passiert.“ Hö? Passiert doch nix. Sollte den Tag den Doc ja nicht sehen. Eigentlich. Aber als ich zu mir kam, war er voll mit mir beschäftigt. Hab meine ganze Länge in einem winzigen Toiletten-Vorraum drapiert. Als ich aufwachte, dacht ich noch „warum liegen meine Beine auf dem Kloo?“ Alles klar. Kreislauf stabilisieren. Den Abgang hab ich total verpasst.
Naja, Miki will natürlich gleich heldenmäßig aufstehen, die Schwestern bringen einen Rollstuhl, setzen mich auch noch rein, dann fehlt wieder ein Stück.
So ging das dann eine Weile, ich dachte es geht..Versuch..schwank… hinleg.
Inzwischen konnte ich mich kaum noch bewegen, alle Gelenke gefühlte Ballons, schwergängig, bei Bewegung sofort schmerzhafter Protest!
Naja, was soll ich sagen. War wohl noch mindestens zwei weitere Stunden vor Ort, das Zeitgefühl ging mir verloren. Zum Schluss waren es ungefähr sieben Stunden. Sieben Stunden, die mein Auto auf dem Gehweg geparkt war, in Friedrichshain! Hab ich mir solche Sorgen gemacht! Und dass sie mich – ohne Abholkommando- nicht so schnell aus der Praxis lassen konnten, war auch klar! Und mein Auto DORT und ÜBERHAUPT allein zu lassen? Nie!! (Treue Leser kennen ja meine Auto-Macke).
Naja, nun hocke ich hier, wusste gar nicht, wieviel Gelenke so eine Hand hat, ALLES tut bei JEDER Bewegung weh, aus den Stiefeln bin ich gar nicht rausgekommen, Füsse dick wie vom Elefant geborgt und die Hände können nicht zufassen! Später hab ich es geschafft, Kaffee kochen ging irgendwie, Stulle schmieren nicht, auch egal…
Aber ich bin froh, auf meinem Sofa zu sitzen, mein Auto vor der Haustür geparkt und alles andere wird auch wieder…
Über’s Fernsehprogramm ärgern? Zeitverschwendung! Wie unwichtig!
An den Opi und die Omi & Geist denken? Ja. Leider. Oder nicht (leider)?

Wo ist mein Mantel???

Mantel

    • Michaela sagt:

      Diese onkologischen Tageskliniken sind wirklich ein Horror – ob für die Beteiligten oder die Aussenstehenden. (Haben wir bei uns in der Praxis u. a. auch…) Und gerade von diesen Menschen lernt man, was annehmen, Humor und Lebensmut bedeutet. Und doch schaffe ich es oft nicht, an der Außentüre alles ab zulegen. Manchmal ist der Mantel wirklich unsichtbar bzw. unfühlbar. :cry:

      Hast du auf die Ferrlecit-Infusion einen allergischen Schock entwickelt? :shock: Schöne Sche**e!!! Bleibt dann nur noch die orale Zufuhr…

      Mitfühlende Genesungswünsche von der Kolleeschin

    • Miki sagt:

      @Michaela
      Das Problem ist: oral geht gar nicht!
      Das Zeug heißt Venofer.
      (Die Knöchel an der rechten Hand tauchen langsam wieder auf…also es wird ;-) ) und danke! :grin:

      Diese Menschen lehren uns, das Leben zu lieben. Weil sie uns einen Schritt voraus sind. Aber wirklich nur einen.

    • Sascha sagt:

      Dann möchte ich an dieser Stelle vielen Dank sagen, dass du dir trotz der Schmerzen die Mühe gemacht hast, diesen langen und wirklich interessanten Erfahrungsbericht zu schreiben.

    • Miki sagt:

      @Sascha
      gerne und hülft mir selbst ;-)

    • Paul sagt:

      Diesen Mantel zu tragen, ist etwas, was wir brauchen. Aber trotz allem immernoch Mensch zu sein, und auch manchmal unser Innerstes berühren zu lassen.

      Wünsch dir viel Glück

    • Miki sagt:

      Danke Paul!
      Hab mir deinen Blog gleich als Lektüre auf Halde gelegt… freu mich drauf… jetzt aber erstmal was arbeiten, heute Büro, ist mir ganz recht… :roll:

    • Ini sagt:

      liebe Miki,

      dass du nach so einer Behandlung und dem Allergieschock noch so geschrieben hast – Hut ab – ich bewundere Dich!

      sei ganz, ganz lieb gegrüßt

      liebe Grüße

      Ini

    • GZi sagt:

      Die Balance zwischen Selbstschutz und aufrichtiger Anteilnahme ist sicher das Schwerste. Ich habe es selbst erlebt, als ich meine Großmutter und später meine Mutter pflegte. Wobei da dann natürlich auch die familiäre Betroffenheit dazu kommt und die ständige Frage, ob man genug und alles richtig macht… und trotzdem, auch da braucht man Auszeiten, Rückzugsmöglichkeiten, einen Schutzmantel, sonst wird man wahnsinnig… ich wünsche allen, die in diesen Berufen arbeiten, viel Kraft und eine gesunde Balance.

    • rundumkiel sagt:

      Ein wirklich lesenswerter Artikel. In solchen Situationen lernt man mal wieder ein bisschen Demut. Bei mir führt das immer dazu, das ich meine eigenen Problem neu dimensioniere und dann feststelle, dankbar feststelle, dass es mir zum Glück ziemlich gut geht. Zum Glück!

    • Arven (Michaela) sagt:

      Ich hoffe dir geht es mittlerweile besser?!
      Ich denke wir alle die wir in medizinischen Berufen sind verlieren manchmal diesen Mantel.
      Aber gerade das macht uns menschlich und auch sensibilsiert es uns für viele Situationen.
      Ich drück dich mal ganz, ganz lieb…

    • Nila sagt:

      Auch meine Bewunderung hast du. Wahnsinn! Nämlich gleich nach dieser Behandlung loszuschreiben.
      Ich hatte diese Wochen der Behandlung schrecklich in Erinnerung und bin sozusagen im Selbstmitleid versunken.
      Geht es dir nun besser? Zu deinem Artikel sage ich einfach nur DANKE. Danke, dass ich dies lesen durfte.
      Bussi und Drück
      Nila

    • Miki sagt:

      @Arven und @Nila … fühl mich gedrückt…und gegrüsst von @Ini … danke!
      Am Tag dieser Aktion war ich so voller Optimismus, dass am nächsten Tag alles wieder gut sein würde, dass mich das alles gar nicht richtig berührt hat.
      Naja, war es leider nicht. Muss mir bei meinen Stunt in der Mini-Sanitärzelle ein paar Rippen geprellt haben… :shock: tief Luft holen nicht möglich. Auch die Gelenke wollten noch nicht und eine Wassereinlagerung von ca. 3kg machten mir zu schaffen.
      Aber seit heute denke ich einen Aufwärtstrend zu spüren :grin: … öhhmmm … die zweite Sitzung nächste Woche fällt übrigens aus :grin:
      Drei Tage war das Miki krank-
      nun isst es wieder- Gott sei Dank! ;-)

    • Michaela sagt:

      Ja, die onkologische Tagesklinik kenne ich nur zu gut, allerdings als Patientin und da hätte ich auch gerne manchmal einen Mantel an. Auch heute noch, meine ständigen Kontrolltermine in der Onkologie-Ambulanz der Uni, sehr traurig. Leider habe ich viele Mitpatienten verloren. :(

      Ich hoffe das es Dir wieder besser geht und Du Deinen Mantel nicht wieder verlegst. ;)

      LG, Michaela

    • Bonny sagt:

      Dein Bericht hat mir die Sprache verschlagen… ich hoffe, dir geht es inzwischen wieder besser?

    • Miki sagt:

      :whaaa:
      Heute hab ich Post vom Polizeipräsidenten bekommen :depresive:
      Hatte ja keinen Zettel dran, aber hab ein Knöllchen für meine Parkerei an dem Tag bekommen. Naja, hatte ja auch andere Sorgen…. 11.32 Uhr… das hätte mich sowieso erwischt, auch wenn ich die Infusion prima vertragen hätte…naja… trotzdem blöd :grrr:

    • mikmups sagt:

      Das nun auch noch, na Kopf hoch,es hätte schlimmer kommen können. Ich wünsche dir für das nächste Mal „Gute Nachrichten“ :-) ;)

    • Miki sagt:

      Noch ein Nachtrag: Fortsetzung am 26.01.10
      Ihr drückt mir doch die Daumen, dass ich nicht wieder so ein Schauspiel dort abliefere?? Hä?? :devil:

    • Bonny sagt:

      Tun wir :lol: Ich geb den Kätzchen Bescheid, dann kommen zu meinen Daumen noch mal 8 Pfoten dazu, die für dich gedrückt werden … reicht hoffentlich fürs erste :D

    • Miki sagt:

      ich danke dir @Bonny, ich verlasse mich auf euch!!! (und deine schicken Pfötchen zählen sicher auch doppelt ;) )


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